Hat Die Orgelbauerin Ihr Interesse geweckt? Dann finden Sie im Folgenden den Prolog des Romans:
INTRODUKTION
1902
Paula Bertram klopfte leise an die Tür zum Stimmraum der Orgelwerkstatt.
Stille.
Sie pochte stärker.
Hans Meichelbeck, ein Mitarbeiter ihres Vaters, öffnete ihr die Tür. »Komm rein, aber sei artig.«
»Bin artig.«
»Weiß ich doch.« Nun lächelte er.
»Danke.« Paula schürzte die Lippen, entbot dem Gesellen den Knicks. Oder war er schon Meister? Sie verlor das Gleichgewicht, glitt zu Boden.
Meichelbeck lachte und hob sie wieder auf.
Verstohlen richtete Paula ihren verrutschten Haarreif und folgte Meichelbeck in den bloß von einer Petroleumlampe erhellten Stimmraum der Orgelbauwerkstatt. Dort wurden, das wusste sie bereits von ihrem Vater, gefertigte Pfeifen das erste Mal zum Klingen gebracht. Dieser Gestank nach Öl, Lacken und Lasuren aus der benachbarten Holzwerkstatt! Daran musste sie sich zunächst gewöhnen. Die Chemikalien brannten ihr in den Augen, sie rieb. Dann entdeckte Paula Orgelpfeifen aus Holz, die auf einer Art Gestell steckten.
»Die sind aber groß«, staunte sie.
Hinter sich nahm sie einen Schatten wahr, jemand betrat den Raum. Es war jedoch nicht ihr Vater, sondern ein Lehrling, mit einem Besen und einer starken Petroleumlampe in den Händen.
Meichelbeck nickte dem Lehrling zu, bat ihn, mit dem Kehren noch zu warten, und winkte Paula vor das Gestell mit den Pfeifen.
»Was für Pfeifen sind das?«, fragte sie.
»Hohlflöten.«
»Wunderschön sind die.«
»Und so klingen sie auch, sehr mild und weich.«
Meichelbeck stellte Paula einen Trittschemel hin, sodass sie die Pfeifen aus der Nähe betrachten konnte. Wie intensiv das Holz duftete! Es roch nach Harz, das sie von Streifzügen durch die Wälder kannte. Paula liebkoste die Pfeifen ein letztes Mal und stieg vom Tritt hinunter.
»Flöten sind Lippenpfeifen. Diese Pfeifen sehen fast aus wie eine Blockflöte, bloß ohne die Löcher für die Finger. Hast du schon mal eine Blockflöte gesehen?«
Paula nickte.
Meichelbeck zeigte nun auf die Öffnung an der Seite der Pfeife. »Schau, hier strömt die Luft durch und bringt die Pfeife zum Schwingen und Klingen. Fast wie bei unseren Lippen, wenn wir pfeifen.« Der Geselle pfiff eine Melodie.
Sie lauschte ihm fasziniert.
»Gibt es noch andere Pfeifen?«, fragte sie nach dem letzten Ton.
»Ja, die Zungen. Die sind immer aus Metall und haben keine Lippen, sondern ein Metallblättchen, das in der Luft schwingt und dadurch den Ton erzeugt.«
Paula staunte. »Führst du mir die Hohlflöten vor?«, bat sie Meichelbeck. Der groß und stark war wie alle Männer im Betrieb, aber eine sanfte Stimme hatte. Der nie barsch zu ihr gewesen war.
»Gern.«
»Und wie machst du das?«
»Hier an dem Gestell. Solche Vorrichtungen, auf denen die Pfeifen angebracht sind, heißen Laden, auch bei der richtigen Orgel. Und die hier, die nur dazu da ist, Pfeifen erstmals zum Klingen zu bringen, nennen wir Intonierladen. Damit werden unsere Pfeifen, ehe sie in die Kirche kommen, vorintoniert, also im Ton grob gestimmt. Schau mal, hier ist die Klaviatur, auf der man spielt. Und dort kommt die Luft für die Pfeifen auf der Lade heraus.« Er wies auf ein aufgefächertes Gestell mit Beuteln, an dem ein Fußtritt angebracht war.
»Ist das der Blasebalg?«
»Genau.«
Sie setzte sich auf den Schemel am Öfchen, Buchenscheite knisterten darin, das Feuer wärmte. Sie glitt aus den Stiefeln. Streifte die kratzenden Wollsocken ab und streckte die Beine von sich. Dabei sah sie Meichelbeck zu, wie er den Halt der Pfeifen überprüfte und danach an die Klaviatur trat, worauf er dem Lehrling bedeutete, den Balg zu treten.
Der tat, wie ihm geheißen. Der Balg murrte, dann machte er genug Wind für die gespielte Melodie.
Paula schloss die Augen. Sie hörte den Klang nicht nur, sie spürte auch die Luft schwingen und singen. Sie schaute zu Meichelbeck hinüber. Jetzt schien er die Tasten schier zu streicheln. Wie klein seine Hände waren! Keine Spuren von Dreck oder Wagenschmiere an seinen Fingern. Wie sie sich wohl anfühlten?
Der letzte Ton verklang, und trotz des eher kleinen Raumes hallte er ein wenig nach. Wie lange so ein Ton wohl in großen Kirchen hallte?
Auf dem Schemel in ihre Gedanken vertieft, bemerkte Paula nicht, dass Meichelbeck die kleinste Hohlflöte aus der Lade gezogen hatte und nun neben ihr stand. »Möchtest du da mal reinblasen?«
Paula sprang auf. »O ja, liebend gern!« Sie griff danach.
Der Geselle schüttelte den Kopf. »Lass bitte los, ich halt sie fest. Sie darf nicht noch einmal hinunterfallen. Sonst krieg ich Ärger mit deinem Vater.«
Sie ließ artig ab. Meichelbeck führte ihr die Pfeife zum Mund, und sie blies ein paarmal hinein.
»Genug jetzt!« Meichelbeck wirkte plötzlich ungeduldig. Beinahe kam es ihr vor, als bereue er es, dass er sie die Pfeife hatte ausprobieren lassen.
Paula setzte sich zurück auf den Schemel. Trotz des Öfchens fror sie auf einmal. Sie zog die Socken wieder an und schlüpfte rasch in die Stiefel. Meichelbeck wischte die Pfeife mit einem Lumpen ab. Sie hörte Schritte hinter sich, zuckte zusammen. Abermals war es der Lehrling, der nun die Späne vom Boden kehrte.
Schweigend steckte Hans Meichelbeck die Pfeife zurück auf die Intonierlade. Paula igelte sich auf ihrem Schemel ein und stützte den Kopf auf Hände und Ellenbogen. So jedoch saß sie dem Besen des Lehrlings im Weg. Sie hebelte sich rasch empor und schob den Schemel an die Wand. Fieberhaft sah sie sich im Raum um, suchte nach etwas, was aufzuräumen war oder wie sie Meichelbeck helfen könnte.
»Hans?«
»Ja?«
»Ich bin doch schon groß.«
»Bist du.«
»Und habe immer gute Zensuren in der Schule.«
»Ja.«
»Ich könnte hier in der Werkstatt …«
»Könntest du«, unterbrach Meichelbeck sie. »Aber …«
Er zögerte.
»Aber?«
Meichelbeck schluckte. Seine betretene Miene verriet, dass er ihr etwas verschweigen wollte. Der Lehrling kehrte um sie herum. Paula stockte der Atem, denn jetzt hörte sie Schritte, die sie nur zu gut kannte. Vater betrat den Stimmraum.
»Was hast du hier verloren?«, herrschte er sie an.
»Sei doch nicht so grob zu ihr, sie möchte nur mal Werkstattluft schnuppern«, beschwichtigte Meichelbeck ihren Vater.
Der ging darüber hinweg. »Paula, siehst du nicht, dass du beim Kehren störst?«
»Ich will Orgelbauerin werden!«
»Das kannst du nicht als Frau. Los jetzt, raus hier!«